Peter David Schaade: „Unsere Evoke-Hörsysteme mit Artificial Intelligence sind einzigartig"

Mit dem „Widex Evoke” hält künstliche Intelligenz Einzug in die Hörsysteme. Auf dem diesjährigen EUHA-Kongress erklärt Peter David Schaade, CEO der Widex Hörgeräte GmbH, im Gespräch u. a. das Potenzial und die Nutzen von Artificial Intelligence in Hörsystemen und bezieht Stellung zur geplanten Fusion mit der Sivantos Gruppe.

Veröffentlicht am 12 Dezember 2018

Peter David Schaade: „Unsere Evoke-Hörsysteme mit Artificial Intelligence sind einzigartig”

Herr Schaade, wir haben Donnerstagvormittag. Wie war der erste Tag der Industrieausstellung für Widex?
Der Kongress ist für uns sehr gut angelaufen. Es kamen bereits am Mittwoch mehr Besucher als wir erwartet haben. Wir haben ja auch viel zu erzählen, denn wir präsentieren mit dem Premium-Hörsystem „Widex Evoke“ in diesem Jahr unsere neueste technologische Entwicklung, bei der wir auf Artificial Intelligence setzen. Das ist ein sehr spannendes Thema für unsere Kunden, da dies einzigartig am Markt ist.

Wie wird das „Evoke“ von Ihren Kunden aufgenommen? Spüren Sie gerade wegen der Artificial Intelligence auch mal eine, sagen wir, Überforderung? Unsere Kunden sind technologisch extrem interessiert und Neuem gegenüber aufgeschlossen, dementsprechend sind auch die ersten Rückmeldungen sehr positiv. Mit „Evoke“ erleichtern wir Hörgeräte-Trägern den Umgang mit ihren Hörsystemen und steigern die Klangqualität nochmals deutlich. Denn der Trend geht zu mehr Individualisierung. Der Nutzer möchte – auf Basis einer perfekten Anpassung des Hörsystems – die Möglichkeit haben, in bestimmten Hörsituationen im Hier und Jetzt den Klang des Hörsystems auf seine aktuellen Hörvorlieben anzupassen. Diesem Trend werden wir mit Machine Learning-Technology gerecht. Selbstfahrende Autos oder eine Gesichtserkennung sind Beispiele für die Umsetzung von künstlicher Intelligenz. Mit Machine Learning setzen wir nicht nur die menschliche Intelligenzleistung in Technologie um, sondern gehen noch einen Schritt darüber hinaus: Wenn man den Klang des Hörsystems einstellen möchten, dann kann man manuell bis zu 2,4 Millionen Einstellungen ausprobieren. Das ist für den Menschen nicht realistisch umsetzbar. Deshalb haben wir über Jahre daran gearbeitet, eine Machine Learning-Technologie zu entwickeln, die es dem Anwender ermöglicht, seine Hörgeräte direkt in der aktuellen Hörsituation, also in Echtzeit, an sein individuelles Klangempfinden anzupassen – etwas, das kein Mensch in dieser Präzision und Schnelligkeit schaffen würde.

Wie funktioniert dies mit „Widex Evoke“ genau? 
Über die Funktion SoundSense Learn, die auf Machine-Learning-Algorithmen basiert. Diese Funktion wird vom Hörgeräte-Träger über die „Evoke“-App bedient. Dem Nutzer werden in Echtzeit zwei unterschiedliche Klangeindrücke für seine aktuelle Hörsituation vorgeschlagen und er wählt diejenige aus, die seiner Hörintention eher entspricht. Die Machine Learning-Algorithmen lernen von jeder Einstellung, ziehen daraus Rückschlüsse und optimieren die folgenden Klangbeispiele so, dass die Anzahl der Klangvergleiche auf maximal 20 reduziert wird. Diese Entwicklung ist revolutionär. Damit kommen wir dem echten, personalisierten Hören immer näher.

„Bereits am Mittwoch mehr Besucher als erwartet.” Messestand von Widex 

Wäre es möglich, dass sich das Artificial Intelligence-Thema auch dahin entwickelt, dass ein „Evoke“-Nutzer von den Erfahrungen anderer profitieren kann? Nach dem Motto: „Nutzer kamen in ähnlichen Situationen gut mit diesen Einstellungen zurecht“? Damit bräuchten Sie auch keine Telemedizin … 
Machine Learning Technology übernimmt tatsächlich die Aufgabe von Telemedizin zu einem Großteil. In vielen Fällen, in denen der Hörgeräte-Träger die Funktion SoundSense Learn nutzt, wäre er üblicherweise zurück ins Fachgeschäft gegangen. Mit unserer Technologie bieten wir Vorteile für den Hörgeräte-Träger, der seinen Klang einfach und schnell selbst auf seine aktuellen Hörwünsche in seinem realen Lebensumfeld einstellen kann, und schaffen damit gleichzeitig auch mehr Freiraum für den Hörakustiker. Ein weiterer Vorteil unserer Machine Learning-Funktion ist es natürlich auch, dass sie das Potenzial bietet, das Klangerlebnis für alle „Evoke“-Träger weltweit zu optimieren. SoundSense Learn gibt uns Hinweise darauf, wie Klangeinstellungen für bestimmte Hörsituationen idealerweise sein sollen. Die „Evoke“-App sammelt eine Vielzahl anonymer Benutzerdaten, z. B. wie oft die Lautstärke erhöht oder verringert wurde, welche Klangvoreinstellungen gewählt und wie viele benutzerdefinierte Einstellungen für Hörsituationen erstellt wurden. Die Analyse dieser Informationen wird uns helfen, die Weiterentwicklung von Widex „Evoke“ sowie zukünftigen Hörsystem-Generationen maßgeblich voranzutreiben.

Für unser Verständnis: Der Einsatz von Artificial Intelligence ersetzt aber nicht die Automatiken in den Hörsystemen, oder?
Nein, absolut nicht! Die automatische, perfekte Anpassung des Hörsystems an unterschiedliche, schnell wechselnde Hörsituationen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das natürliche Hören. Dies bedeutet auch, dass die professionelle Hörsystem-Anpassung vom Hörakustiker unverzichtbar ist und bleibt. Durch unsere neue Fluid Sound-Technologie erreicht die vollautomatische Hörsystemsteuerung ein neues Qualitätsniveau. Die intelligente Automatik analysiert die akustische Hörsituation detailliert in Echtzeit und ordnet sie einer Sound-Class zu. Bei der Analyse gleicht die Universalautomatik eine Hörsituation mit 700 Hörmustern ab. Diese Hörwelt-Datenbank mit typischen Alltagsklangmustern ist jetzt doppelt so präzise wie zuvor und enthält unglaubliche 700 Hörmuster.
Und auch unsere Sound-Classes haben wir um zwei zusätzliche Sound-Classes erweitert. Neu hinzugekommen sind die Sound-Class „Social“ und eine neue Sound-Class für Musik. Mit der Sound-Class „Social“ schaffen wir eine Brücke zwischen den bereits bestehenden Sound-Classes „Ruhe mit Sprache“ und „Gesellschaft mit Sprache“. Die neue Kategorie wurde für Situationen mit mehreren Sprechern und moderaten Hintergrundgeräuschen geschaffen. Also zum Beispiel beim Abendessen mit der Familie zu Hause. Das Hörsystem geht dabei von einem guten Signal-Rausch-Abstand aus, das heißt leise Geräusche aus der Entfernung werden reduziert und der Fokus wird auf die Sprecher im unmittelbaren Umfeld gelegt. Der Effekt für die Sprachverständlichkeit ist großartig. Mit der neuen Sound-Class für Musik können wir jetzt zwischen zeitgenössischer und klassischer Musik unterscheiden. Zeitgenössische Musik wird für beste Klangqualität mit einer langsameren Kompressionsgeschwindigkeit verarbeitet, während für das beste Hörerlebnis bei klassischer Musik gleichzeitig mit einer langsamen und schnellen Kompression gearbeitet wird.

„Die professionelle Anpassung durch den Akustiker ist unverzichtbar”     

Sie hatten im Vorfeld des Kongresses auch eine neue Bluetooth-Lösung angekündigt. Was hat es mit der auf sich?
Unsere neue TV-Zubehörlösung „TV Play“ überträgt den Ton des Fernsehers via 2,4 GHz-Bluetooth direkt in die Hörsysteme – und das in einer wirklich fantastischen Stereo-Klangqualität. „TV Play“ verfügt über ein Dual-Antennensystem, das neue Maßstäbe in Sachen Streaming-Stabilität setzt. Diese Innovation ist zum Patent angemeldet. Mit der Widex „Evoke“-App lassen sich Klangeinstellungen für „TV Play“ ganz intuitiv und komfortabel steuern, z. B die Lautstärkeeinstellung oder die Mikrofonstummschaltung. Die Marke Widex steht auch für exklusives Design. „TV Play“ wurde für sein funktionales und gleichzeitig attraktives Design mit dem renommierten Red Dot Award ausgezeichnet.

Ein Eindruck, den Sie, aber auch Ihre Mitbewerber mit solchen Features vermitteln ist der, dass die Grenze zwischen Hearables und Hörsystemen etwas verwischen. Was versprechen Sie sich davon? 
Wir machen Medizintechnik und dabei bleibt es auch. Unser Auftrag ist es in erster Linie, den Hörverlust von Menschen mit Hörminderung durch intelligente Hör-Hightech bestmöglich zu kompensieren. Natürlich sind die vielseitigen Funktionen, die Hörsysteme heute bieten ein toller Zusatznutzen. Wir erreichen jetzt einen Punkt, an dem Hörgeräteträger sogar mehr Vorteile im Leben haben als Normalhörende. Sei es in geräuschvollen Situationen, in denen sich auch Normalhörende schwer tun, oder in Situationen, in denen man eine fantastische Stereo-Klangqualität erhält, zum Beispiel beim beidohrigen Telefonieren oder beim Fernsehen. Unsere „Evoke“-Hörsysteme sind multifunktionale Kommunikationssysteme. Hörgeräte-Träger können sich jegliche Art von Audiodaten in das Hörsystem streamen lassen. Ganz gleich, ob sie Musik oder Hörbücher hören oder sich mit Google Maps durch die Stadt navigieren lassen. Mit der Google Translate-App haben die Nutzer sogar immer ihren Übersetzer direkt auf beiden Ohren. Diese Nutzungsmöglichkeiten sind wirklich phänomenal.

Wie bewerten Sie eigentlich, auch in Anbetracht der weiter fortschreitenden Filialisierung, Ihre Vertriebskanäle? Und welcher Fachbetrieb, der noch nicht Kunde bei Ihnen ist, sollte es unbedingt werden? 
Widex ist eine starke Premiummarke, mit der man sich als mittelständischer Fachbetrieb für Hörakustik sehr gut am Markt positionieren kann. Wir bieten audiologisch und technologisch anspruchsvolle Hörlösungen und setzen unseren Fokus auf absolute Kundenorientierung, Zuverlässigkeit und Kontinuität. Unsere Kunden haben ein hohes Vertrauen in uns als Mittelstands-Partner. Wir investieren außerdem viel in die Wertigkeit und das Image unserer modernen Hörlösungen und damit auch in das Image unserer Branche, z. B. im Rahmen der Marketing- und PR-Maßnahmen mit unseren prominenten, glaubwürdigen Botschaftern und Testimonials.

Und damit binden Sie Ihre Testimonials dann nachhaltig? Die TV-Moderatorin und Bloggerin Tanja Bülter ist nun schon zum zweiten Mal auch hier auf dem Kongress für Sie im Einsatz … 
Wir haben mit Mario Adorf, Christoph M. Ohrt und Tanja Bülter drei tolle Persönlichkeiten an Bord, die alle selbst Widex-Hörsysteme tragen und damit in der Kommunikation sehr authentisch sind. Alle Testimonials sind von unseren Hörsystemen überzeugt und es liegt ihnen geradezu am Herzen, ihre Erfahrungen mitzuteilen und Menschen mit Hörminderung zu motivieren, sich ebenfalls für ein besseres Leben mit Hörsystem zu entscheiden. Deshalb erwachsen aus der Zusammenarbeit mit unseren Testimonials langfristige Kooperationen.

Noch mal ein Themenwechsel: Wir haben vermutet, dass Sie in diesem Jahr auf dem EUHA-Kongress auch die Brennstoffzellen-Technologie präsentieren würden. Auf dem amerikanischen Kongress wurde in diesem Bezug auch auf diese Industrie- ausstellung verwiesen. Wie ist hier der Stand der Dinge? 
Wir befinden uns in der Endphase in Sachen Brennstoffzelle. Die Technologie funktioniert bereits, viele Mitarbeiter in Dänemark tragen bereits Hörsysteme mit der Energy Cell. Wie bei allem, was wirklich Neuland ist, gibt es allerdings auch Regularien, die erst noch definiert und geprüft werden müssen – und das ist ein längerer Weg. Ich gehe allerdings davon aus, dass wir im Frühjahr des nächsten Jahres auf den Markt gehen können.

„An unserem Widex-Premium-Ansatz wird sich nichts ändern”

Und damit schließen Sie für sich die Nutzung von Lithium-Ionen-Technologie aus?
Wenn eine Technologie gut ist und sie nachgefragt wird, muss man sie im Portfolio haben. Wir entwickeln auch in diesem Bereich. Die Brennstoffzelle allerdings wird die Welt verändern. Die kleinste Brennstoffzelle der Welt im Hörsystem ist etwas Revolutionäres. Wir sind damit auch anderen Branchen weit voraus.

Ein weiteres großes Thema mit Blick auf Widex ist die anstehende Fusion mit der Sivantos-Gruppe. Und wie ist der Stand der Dinge?
Wir befinden uns derzeit noch im Genehmigungsprozess. Die wichtigste Botschaft für unsere Kunden ist, dass beide Unternehmen auch zukünftig vollständig getrennt voneinander geführt werden. An unserem Widex-Premiumansatz und der Art und Weise, wie wir mit unseren Kunden, Produkten und unserer Dienstleistung umgehen, wird Widex nichts verändern. Die Familien Tøpholm und Westermann (Eigentümer der Widex A/S) und EQT (Eigentümer von Sivantos) realisieren mit der Fusion der beiden Unternehmen einen strategischen Zusammenschluss unter Gleichen. Ziel ist es, Wachstum zu beschleunigen, die Marktpräsenz zu stärken und die Effizienz zu steigern, um zusätzliche Investitionen in die Forschung, Entwicklung und den Vertrieb zu ermöglichen. Das fusionierte Unternehmen wird ein globaler Innovationsführer, der das Angebot sowohl für bestehende Nutzer, als auch für die Millionen von Menschen mit Hörverlust verbessert. Der Zusammenschluss passt zu unseren Werten und langfristigen Zielen. Nach erfolgreicher Fusion wird das neue Unternehmen im Besitz der Familien Tøpholm und Westermann sowie EQT Funds einschließlich Co-Investoren sein. Die Fusion kombiniert dabei die starken Wertschöpfungskapazitäten von EQT beim Aufbau von Unternehmen mit dem langfristigen Horizont der Widex-Eigentümer. Die Familien Tøpholm und Westermann werden nach Abschluss der Transaktion die größten individuellen Gesellschafter des Unternehmens, was das langfristige Engagement der Familien widerspiegelt. Ich denke, damit ist das Wesentliche gesagt!
Herr Schaade, wir danken Ihnen für das Gespräch.