Oticon Opn trifft Messtechnik - Ein Workshop

Mitte April luden Oticon und Diatec in sechs Städten zu einem Messtechnik- und Anpass-Workshop. In vier Städten, darunter Hamburg, gab es ob des großen Interesses gar einen Vormittags- und einen Nachmittagstermin. 

Veröffentlicht am 23 Juli 2018

Oticon Opn trifft Messtechnik – Ein Workshop

Mit den Veranstaltungen wollen die Unternehmen einmal mehr die Nähe zu ihren Kunden unterstreichen. Für gewöhnlich begeben sich Hersteller auf Roadshow-Tour, wenn sie ihren Kunden neue Produkte präsentieren wollen. Doch auf den Terminen vom 16. bis zum 26. April dieses Jahres zeigen weder Diatec noch Oticon Produkt-Neuigkeiten. Die Geräte, die auf der Hardware-Seite die Hauptrollen einnehmen, allen voran „Oticon Opn 1“ und „Callisto“, sind etablierte Bekannte. So soll es auf dem „exklusiven Messtechnik- und Fitting-Workshop“ vor allem darum gehen, neue Software-Möglichkeiten aufzuzeigen, mit denen man das Potenzial des „Oticon Opn“ noch besser ausschöpfen kann. So ergeben sich gerade für die Freunde der Messtechnik echte Vorteile, die dem Hörsystem-Träger helfen würden, noch mehr Nutzen zur erleben.
Gastgeber der Vormittagsveranstaltung im Hamburger Mercure Hotel am Volkspark sind Horst Warncke und Dieter Barthel. Beide haben diverse Kollegen aus ihren Unternehmen mitgebracht, so dass später, während des Workshops, für genügend Hilfestellung gesorgt sein wird. Eröffnet allerdings wird die Veranstaltung mit Vorträgen.

Für den Einstieg gibt Horst Warncke einen Abriss der Geschichte der William Demant Holding. 1904 von Hans Demant gegründet, führt dessen Sohn William die Geschäfte fort. Der gründet schließlich die Oticon Stiftung, in die stets der Großteil der Unternehmensgewinne fließt. „Daraus wird Grundlagenforschung rund um die Audiologie finanziert“, berichtet der Leiter der Audiologie der Oticon GmbH. Jedes verkaufte Oticon-Hörsystem fördert also auch die audiologische Grundlagenforschung. Zudem hält die Stiftung rund 60 Prozent der William Demant-Aktien.

Auch auf die ebenfalls zur dänischen Holding gehörenden Firmen Bernafon oder Oticon-Medical sowie die Hersteller von Diagnostik-Ausrüstung Maico oder Interacoustics kommt Warncke zu sprechen. Die zwei zuletzt genannten Firmen sind die Stichwörter für Dieter Barthel. „Die beiden Unternehmen haben 2015 Diatec gegründet“, berichtet der Produktmanager Fitting bei Diatec. Mit der Etablierung dieser Dachorganisation wollte man „Klarheit im Vertrieb“ schaffen. Schließlich habe Maico in Deutschland größtenteils Produkte der Schwesterfirma Interacoustics verkauft. Als Diatec machen die Firmen, zusammen mit MedRX, nun gemeinsame Sache und zeigen sich sowohl als Lieferant wie auch als Serviceleister ansprechbar. Selbst Messtechnik von Drittanbietern würde man auf Anfrage warten, so Dieter Barthel. Die Software, mit denen die Geräte von Diatec arbeiten, sei überdies stets die gleiche. So könne man die Hardware „immer sofort bedienen“.

Sitzt der Schlauch weit genug drin?

Dann übernimmt Horst Warncke wieder. Er stellt das zu Oticon gehörende Forschungszentrum Eriksholm und dessen Aktivitäten vor. „Drei Forschungsschwerpunkte gibt es dort zurzeit“, berichtet er: kognitives Hören, Advanced Algorithms und E-Health. In allen Bereichen würde künftig „noch mehr passieren“.

Der audiologische Einstieg
Nun bewegt sich der Vortragsabschnitt in Richtung des noch folgenden Praxisteils. Horst Warncke fasst den Ansatz zusammen, den Oticon mit dem „Opn“ verfolgt: die Abkehr von der bewährten Direktionalität, der Paradigmenwechsel in puncto Nutzung der Richtmikrofone, der Zugang zu allen Sprechern um einen herum. Letzteres fördere, erklärt er, auch das natürliche Hören. Schließlich höre der Mensch evolutionsbedingt nie nur auf eine Geräuschquelle, sondern behalte stets die gesamte Umgebung sozusagen im Ohr – genau wie er automatisch immer wieder nach links und rechts schaue. Dazu komme, dass, die Höranstrengung steige, hört man immer nur in eine Richtung. „Diesen Aspekt hatte man früher bei den Richtmikrofonen nicht so im Fokus“, sagt Horst Warncke. Der komme erst jetzt heraus. Und dem begegne Oticon eben mit dem Paradigmenwechsel. Dazu käme, dass so nicht allein der dominante Sprecher fokussiert werde, sondern dass Sprecher aus verschiedenen Richtungen erkannt würden. Das habe man inzwischen auch „messtechnisch“ nachgewiesen.

„Wer am lautesten brüllt, muss ja nicht der Wichtigste im Saal sein“, schmunzelt Warncke.
Auch, dass man „Opn“ dem individuellen Hörgeschmack des Nutzers anpassen könne, um so über die Kompressionsstrategie seiner kognitiven Leistung entsprechend zu verstärken, wird erklärt. „Unser Thema Hörprofile ist übrigens jetzt auch in der audiologischen Forschung außerhalb von Oticon angekommen“, sagt Horst Warncke. „Die Strategie, zu gucken, was im Hirn beim Hören passiert, ist also richtig und allgemein anerkannt.“ Bei Oticon verfolgt man bekanntlich schon länger diese eigens Brainhearing genannte Strategie.

Das Ermitteln des Hörgeschmacks 
In der Forschung ermittelt man die kognitiven Kapazitäten eines Nutzers mithilfe von EEG oder mit bildgebenden Verfahren. „Das ist natürlich nichts für die Anpasskabine“, weiß Warncke. Er empfiehlt, im Alltag mit Klangbeispielen die Hörvorlieben des Kunden zu ermitteln, und zwar, ohne dass der Kunde dabei Hörsysteme trägt. Hat man das getan, ergeben sich daraus in der Anpassung entsprechende Automatiken im OpenSound Navigator. „Das Arbeiten mit Klangbeispielen spart einem ein bis zwei Schritte in der Feinanpassung“, so Warncke.
Auch leise Klänge sind bestand der Abfrage von Hörvorlieben. Dies sei wichtig, weil Sprache eben nicht konstant einen Pegel von 60 bis 65 dB erreiche. Sprache im Hochtonbereich ist, wie Horst Warncke zeigt, auch mal leiser als 60 dB. Mithilfe des Softspeach Booster könne man diese leisen Sprachanteile verstärken. „Das meint auch das ‚+’ in VAC+, unserer Anpassstrategie“, erklärt er.
Ein weiterer wichtiger Teil der Individualisierung ist die Rückkopplungsanalyse. Standardmäßig berechnet die Anpasssoftware anhand des Hörverlusts, der Verstärkungsstrategie und der akustischen Ankopplung die Verstärkungsgrenzen, ab denen Rückkopplungen drohen. Diese Grenze wird einem in Genie angezeigt, klickt man auf das Notensymbol. „Wir empfehlen, das zu nutzen“, sagt Horst Warncke. Bei seiner Live-Vorführung konnte beim Umstieg von offenen Schirmchen auf Otoplastiken nach einer Neuberechnung ein Verstärkungsgewinn von fast 30 dB erzielt werden. Auch wenn dies ein extremes Beispiel sei, so sind bei realen Anpassungen immer einige dB aus den Geräten herauszuholen, ohne dass es pfeife.

Von Vorteil ist außerdem, dass es nun von verschiedenen Herstellern einheitliche Messtechnik gibt, so Dieter Barthel. Er meint den neuen Standard der NOAH-Plattform IMC 2. Der erlaube, mit herstellerspezifischen Anpassregeln zu arbeiten, weil nun ein Datenaustausch zwischen Anpassmodul und Messmodul stattfinde. Man könne sogar ganz ohne NOAH arbeiten. „Für unsere Callisto, Affinity und Equinox benötigen Sie dafür allerdings ein Software Update.“ In der Folge würde der FirstFit präziser, weil nun „reale Kundendaten“ mit einfließen. Und praktischer sei es ebenfalls. So könne man das Messmodul nun aus dem Anpassmodul heraus starten. „Die Messung dauert nicht länger als sechs Minuten“, ergänzt Horst Warncke. Man gewinne also mehr Zeit für die Beratung.
Als Horst Warncke in den Raum fragt, wer regelmäßig In-Situ-Messungen durchführe, sieht er noch „Raum nach oben“. Also demonstriert er den Ablauf der Messung mit der Anfangskurve in REM AutoFit. Dafür gibt er, wie es der „Goldstandard der EUHA besagt“, alle drei Pegel ein. „Wir werden oft gefragt, wie man erkennt, ob der Schlauch weit genug drin ist“, ergänzt Dieter Barthel. Ein „sehr guter Indikator sei“, erklärt er, „wenn die Messkurve bei den tiefsten und bei den höchsten Frequenzen in etwa den gleichen Pegel hat“. Besteht anschließend Bedarf für Anhebungen im Tieftonbereich, könne man dies manuell tun. In den oberen Frequenzen mahnt Horst Warncke hingegen zur Vorsicht. So sei die Messgenauigkeit ab 4 oder 5 KHz „nicht mehr so gut“. Zumal man wisse, dass die Geräte hohe Töne gut übertragen, schließlich würde sonst das Richtungshören nicht funktionieren.
Wenig Sinn habe es zudem, alles, was die Verstärkung in den hohen Frequenzen hergebe, oberhalb der Hörschwelle zu platzieren. „Das wäre schlicht zu laut und würde der Kunde nicht akzeptieren“, sagt Dieter Barthel. Zumal man hier ja mit Sprache arbeite und nicht, wie beim Audiogramm, mit einzelnen Tönen.
Dann gibt Dieter Barthel einen Überblick über die Palette an Geräten, mit denen man hierfür arbeiten kann – oder bereits arbeitet. Die Software ist hierbei stets dieselbe, betont er noch einmal. „Die wichtige Botschaft ist“, sagt er, „dass Sie entscheiden, welche Hardware Sie nutzen.“ Habe man in der ersten Anpasskabine bereits eine große Anlage, brauche man für die zweite eventuell keine Messbox mehr. „Da tut es auch das kleine Callisto“, so Barthel. Mit der könne man auch mobile Hörtests durchführen. Auch auf das Soundstudio, das in allen Softwaremodulen der genannten William Demant-Firmen verfügbar ist, kommt er zu sprechen. So könne man die Diatec-Messtechnik zu 100% in das Soundstudio integrieren. „Man braucht dafür nur noch fünf oder sieben Lautsprecher, je nach Raum. Aber Sie brauchen keine Audiometrie-Lautsprecher mehr, das kann man alles über diese Anlage steuern.“ Das Soundstudio würde so auch mit kalibriertem Pegel zur Verfügung stehen.

Hatte mit seinem Team – wie die Kollegen von Oticon –jede Menge hilfreicher Tipps und Tricks auf Lager: Dieter Barthel

Perzentilanalyse – ein tolles Werkzeug

Mit Blick auf den gleich folgenden Workshop thematisiert Dieter Barthel auch die Perzentilanalyse. Hierbei sei es wichtig, Eingang und Ausgang zeitgleich zu betrachten. „Der lauteste Eingangspegel steht für das 99. Perzentil, das ist die Messlinie, unterhalb der sich 99% aller Lautstärken bewegen“, erklärt Dieter Barthel. Man könne das also auch als maximale Eingangslautstärke beschreiben. Dazu kommen das 65. und das 30. Perzentil. Das 30. decke sich dabei in der Sprachbanane mit dem Bereich, in dem man Sprache vermutet, so Barthel weiter. Kenne man diese Größenordnungen, könne man schauen, was am Ausgang passiert und die Verstärkungsleistung eines Hörgerätes ermitteln. Die Darstellung dieser Messung, regt Dieter Barthel an, könne man auch seinen Kunden zeigen, so wie ein Arzt seinem Patienten etwa ein Röntgenbild zeigen würde. „Aber verwenden Sie dabei keine Fachbegriffe“, rät er. „Zeigen Sie einfach diesen Bereich und erklären Sie, dass zwischen dem 99. und dem 30. die Sprachdynamik liegt, von der wir möglichst viel vom Eingang zum Ausgang bringen wollen.“ Als Experte bekomme man mit der Perzentilanalyse noch weitere Erkenntnisse. So könne man aus ihr etwa das Kompressionsverhältnis ablesen. Daher hält er die Perzentilanalyse für „ein tolles Werkzeug“.
Dann kommt er auf den Effekt für den Endkunden zu sprechen. „Eine Hörgeräte-Anpassung muss auch wehtun“, sagt Dieter Barthel. „Nicht im Portemonnaie des Kunden, sondern in dem Sinne, dass man etwas mehr von ihm fordert, als er zu geben bereit ist.“ Darum gebe es schließlich auch Werkzeuge wie die Akklimatisierungsstufen.

Um den Kunden weiter mit einzubeziehen, könne man die Hörsysteme auch mit natürlichen Signalen messen. Für REM Autofit nutze man zwar das ISTS-Signal, man könne aber auch die eigene Sprache verwenden, erklärt Dieter Barthel. „So könnte man dem Kunden auch bei der Feinanpassung wieder erklären, was man erreichen möchte. Das ist alles besser, als ihn als fleischgewordenen Kuppler zu nutzen.“
Wichtig sei außerdem, drei unterschiedliche Eingangssignalpegel zu messen. „Das empfiehlt auch die EUHA“, so Barthel. „Und die EUHA geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie empfiehlt nämlich auch, noch vor der Anpassung die MPO zu messen. Dafür gibt es auch ein Signal – das kann man in der Genie alles schon vorab einstellen. So können Sie noch mehr Dynamik gewinnen.“
Ein weiteres Tool zum Einbinden des Kunden ist, live Sprache als Signal zu nutzen. Die nehme man über ein Referenzmikrofon auf und könne dann direkt sehen, was das Hörsystem aus ihr mache.

Drei Aufgaben warten nun auf die Workshop-Besucher. Die erste haben Horst Warncke und Dieter Barthel während ihres Vortrags bereits vorgemacht: REM Autofit. In einer zweiten Aufgabe geht es um Speech Rescue, in einer dritten erwartet die Hörakustiker eine Perzentil- analyse. Der eben noch verhältnismäßig ruhige Seminarraum erfüllt sich mit Leben. Für manche Messung ist es schon etwas zu laut. Die Diatec- und Oticon-Mitarbeiter schwärmen zu ihren Kunden aus. Wer danach fragt, erfährt weitere Tipps und Tricks. Dann ist es auch schon wieder vorbei.
Ihr Ende nimmt dieser Vormittagstermin mit dem für Oticon inzwischen obligatorischen Quiz über kahoot.it. Dabei können die Teilnehmer noch einmal selbst zeigen, wie viel der heute dargebotenen Informationen sie bereits verinnerlicht haben. Es wird ein knappes Rennen.