eAudiology: Neue Chancen in der Versorgung von Kleinkindern und Säuglingen

Eine Studie zeigt: Beratung und Begleitung der Eltern per Remote Support führt zu deutlich längerer Tragedauer der Hörgeräte. Anpassung, Feineinstellung, regelmäßige Serviceleistungen oder Beratung zu praktischen Aspekten des Alltags mit Hörgerät: 

Veröffentlicht am 06 Juni 2019

eAudiology: Neue Chancen in der Versorgung von Kleinkindern und Säuglingen

Die Bandbreite der Dienstleistungen in der Hörakustik ist groß und entwickelt sich ständig weiter. Eines hat sich dabei lange nicht verändert: Der Kunde vereinbart einen Termin im Fachgeschäft, wenn er ein Anliegen rund ums Hören und seine Hörgeräte hat.

Im Zuge der Digitalisierung und der damit verbundenen technischen Möglichkeiten wurde vor einigen Jahren auf einmal auch eine Versorgung über Distanz denkbar. Wir bei Phonak haben uns zunächst – wie viele Hörakustiker auch – die Frage gestellt, ob das wirklich funktionieren kann. Und sind zu der Überzeugung gekommen, dass die Digitalisierung großes Potenzial für die Hörgeräteversorgung bietet und es sich lohnt, sich frühzeitig mit diesem Thema auseinander zu setzen. Daher haben wir ein internationales Expertengremium einberufen, das sich mit der Terminologie rund um die Digitalisierung, den Voraussetzungen und der praktischen Umsetzung in unserer Branche beschäftigt hat. Das daraus entstandene Positionspapier, das Hörakustikern Orientierung und Empfehlungen für die Einführung von digitalen Dienstleistungen in ihrem Fachgeschäft liefern soll, haben wir bereits vor einigen Ausgaben in der Audio Infos vorgestellt.

Wir wollten es jedoch nicht bei der Theorie belassen, sondern aktiv zur Umsetzung von eAudiology beitragen. 2011 fiel die Entscheidung, eine Phonak Lösung für den Remote Support zu entwickeln. Das Ziel: Wir wollten den Zugang zur Versorgung einfacher und bequemer gestalten, die Einbindung der Familie erleichtern und Hörakustikern sowie ihren Kunden Zeit (und im Idealfall auch Kosten) sparen.

Parallel zur Entwicklung des Phonak Remote Support haben wir eine Reihe an Studien angestoßen. Die Zielsetzung: die technische Machbarkeit, die Einstellung der Hörakustiker und der Kunden gegenüber digitalen Versorgungsansätzen, die Bedeutung einer Videoschaltung für Remote Support-Termine und die Eignung für unterschiedliche Kundengruppen zu untersuchen.

Remote Support: eine Option für die pädiatrische Versorgung?
Nachdem die ersten Studien ergeben hatten, dass Remote Support technisch machbar ist und Hörakustiker sowie ihre Kunden grundsätzlich positiv gegenüber digitalen Services eingestellt sind, stellte sich im nächsten Schritt die Frage, für welche Kunden und Dienstleistungen Remote Support geeignet sein kann. Beruflich eingespannte Kunden, Vielreisende und Hörgeräteträger mit Mobilitätseinschränkungen liegen auf der Hand. Aber kann eine Versorgung über Distanz beispielsweise auch Familien mit kleinen Kindern Vorteile bringen?
Zahlreiche Studien haben bereits gezeigt, dass Kinder für eine optimale Sprachentwicklung möglichst frühzeitig versorgt werden und mindestens 10 Stunden am Tag Hörgeräte tragen sollten. Auch die zentrale Rolle der Eltern für die pädiatrische Versorgung ist wissenschaftlich nachgewiesen. 95% der mit Hörverlust geborenen Kinder haben jedoch Eltern, die selbst keinen Hörverlust haben – und damit wenig bis keine Erfahrung im Umgang mit Hörgeräten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Eltern Unterstützung beim Handling der Hörgeräte erhalten, um sicher zu stellen, dass sie ihre Kinder optimal begleiten können. Was Eltern im Alltag oft schwer fällt: die fachgerechte Pflege der Hörgeräte, die Kontrolle, ob die Hörgeräte die gewünschte Wirkung haben (insbesondere bei Säuglingen, die sich noch nicht mitteilen können) und der Umgang damit, wenn ihre Kinder die Geräte nicht tragen wollen.

Zudem haben Eltern oft Schwierigkeiten, die Tragezeit der Hörgeräte richtig einzuschätzen. Data Logging kann Hörakustiker darin unterstützen, die reale Tragedauer zu erfassen und die richtigen Empfehlungen für Eltern abzuleiten. Bis dato war jedoch ein Besuch im Fachgeschäft die Voraussetzung für das Auslesen der Hörgerätedaten, da diese mit der Anpasssoftware verbunden werden mussten.

Data Logging über Distanz – neue Grundlage für die Beratung von Eltern

Genau dies wollten wir unter anderem mit Phonak Remote Support verändern: Wir stellten Karen Munoz von der University of Utah, USA, und ihrem Team für eine Studie zu Remote Support in der pädiatrischen Versorgung (Muñoz, K., Kibbe, K., Preston, E., Caballero, A., Nelson, L., White, K., & Twohig, M., 2017) einen Prototypen des Phonak Remote Support bereit, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein Data Logging aus der Distanz ermöglichte. Ziel ihrer Studie war es, eine Tele-Beratung der Eltern inklusive Auslesen der Tragedauer der Hörgeräte über Distanz zu testen. An der sechsmonatigen qualitativen Studie nahmen vier Familien mit Kindern im Alter von 2 Monaten bis 5 Jahren teil. Die Kinder waren entweder erst vor kurzem versorgt worden oder die Eltern hatten Schwierigkeiten im alltäglichen Handling der Hörgeräte.

Zu Beginn der Studie fand ein Vor-Ort-Termin statt, bei dem überprüft wurde, ob alle Hörgeräteeinstellungen richtig waren. Die Eltern wurden zudem über die Möglichkeit des Data Logging über Distanz und die Vorteile der Erhebung objektiver Daten zur Tragedauer der Hörgeräte aufgeklärt.

Mit Remote Support zu 3,5 Stunden mehr Tragezeit pro Tag
Im ersten Studienabschnitt wurden regelmäßige virtuelle Termine angesetzt. In dieser Phase ging es darum, die Herausforderungen der Familien im alltäglichen Umgang mit den Hörgeräten besser zu verstehen. Im zweiten Studienabschnitt ging es um das Lösen konkreter Problemstellungen – der Rhythmus der Termine richtete sich in dieser Phase nach dem individuellen Bedarf der Familien. In der abschließenden Studienphase wurde in den Remote Support-Sitz- ungen der Erfolg der vorangehenden Phase kontrolliert und die Beratungsthemen ggf. weiter vertieft.
Die anschließende Studienauswertung fiel beeindruckend aus: Das Data Logging zeigte, dass bereits in der ersten Studienphase die durchschnittliche Tragedauer pro Tag von 7 auf 9,1 Stunden stieg. In der zweiten Studienphase verfestigte sich der positive Effekt, und die durchschnittliche Tragezeit stieg weiter auf 9,5 Stunden pro Tag. Interessanterweise fand in der dritten Studienphase nochmals ein Sprung auf 10,5 Stunden pro Tag statt. Und sorgte für einen Anstieg über die gesamte Studienlaufzeit um knapp 3,5 Stunden pro Tag!

Zu den Herausforderungen, die über das Data Logging und die Beratung über Distanz gelöst werden konnten, zählten unter anderem:
•  Wie kann ich einen Säugling mit Hörgeräten beim Füttern am besten positionieren?
•   Wie kann ich sicher gehen, dass die Hörgeräte an Ort und Stelle bleiben, wenn die Kinder toben und spielen?
•   Wie kann ich kontrollieren, ob die Hörgeräte den ganzen Tag über an sind und funktionieren?

Bei einer Familie zeigte sich über das Data Logging zudem, dass die Tragezeiten der Hörgeräte von Tag zu Tag extrem schwankten – von 2,5 bis mehr als 19 Stunden. Die Mutter hatte zuvor angegeben, dass das Kind die Hörgeräte jeden Tag gleich lang trug. Im Beratungsgespräch fand der betreuende Hörakustiker heraus, dass die Mutter an manchen Tagen vergaß, die Batterietür abends zu öffnen – und die Hörgeräte damit über Nacht an blieben. An anderen Tagen hatte sie die Batterietür beim Anlegen der Hörgeräte in der Früh nicht ganz geschlossen, so dass das Kind sie zwar den ganzen Tag trug, aber keine Verstärkung erhielt.

Bei zwei Familien ermöglichte die Einführung von Remote Support außerdem, den beruflich sehr eingespannten Vater bzw. die Großmutter, die am Wochenende das Kind häufig beaufsichtigte, mit einzubeziehen. Beide waren bei Vor-Ort-Terminen beim Hörakustiker bisher nie dabei gewesen. Das Data Logging hatte aber beispielsweise gezeigt, dass ein Kind am Wochenende, wenn es Zeit bei den Großeltern verbrachte, auf sehr wenig Tragezeit kam. Über den virtuellen Beratungstermin, den die Großmutter gemeinsam mit der Mutter wahrnahm, stellte sich heraus, dass sie dem Kind oft nachgegeben hatte, wenn es die Hörgeräte nicht tragen wollte, weil die Auseinandersetzung für sie sehr anstrengend war. Im Gespräch kam heraus, dass sie sich nicht bewusst war, wie wichtig das konsequente Tragen der Hörgeräte ist. Der Hörakustiker klärte sie darüber auf und gab ihr einige Strategien an die Hand, wie sie besser damit umgehen konnte, wenn das Kind die Hörgeräte wieder nicht tragen wollte.

Zahlreiche Vorteile für die Kinderversorgung
Die Studie von Karen Munoz und ihren Kollegen hat auf beeindruckende Weise gezeigt, welche Vorteile das Data Logging und die Beratung über Distanz für die Versorgungsqualität und -ergebnisse von kleinen Kindern haben können. Darüber hinaus hat sich ergeben, dass die Akzeptanz für digitale Lösungen bei jungen Eltern sehr hoch ist. Sie empfanden es als große Entlastung, Dienstleistungen flexibler und ohne den großen Aufwand, den ein Vor-Ort-Besuch beim Hör- akustiker mit kleinem Kind oft bedeutet, wahrnehmen zu können. Und nicht zuletzt, dass per Remote Support neben den Eltern auch weitere betreuende Personen unkompliziert mit eingebunden werden können.

Aus der Theorie in die Praxis
Nach Abschluss der verschiedenen Studien, bei denen wir unter anderem unseren Prototyp für Remote Support in verschiedenen Phasen testen und anhand des Feedbacks kontinuierlich weiterentwickeln konnten, war es 2018 so weit: Mit Phonak Marvel konnten wir die aktuelle Version von Remote Support launchen, die per Videoschaltung aus Phonak Target heraus neben der Feineinstellung in Echtzeit auch die Beratung über Distanz ermöglicht – für Familien mit Kindern, aber natürlich auch für weitere Kunden und ihre Angehörigen.

Das Feedback aus der Praxis fällt bisher sehr positiv aus: So berichten uns Kunden, dass es einfacher ist als gedacht, wenn man erst einmal den Sprung ins kalte Wasser wagt. Und dass die Termine mit der Zeit bzw. zunehmender Routine immer schneller gehen. Andere haben uns berichtet, dass sie es als großen Vorteil empfinden, dass die Feineinstellung so auch in der realen Umgebung des Kunden stattfinden kann, in der er ggf. Probleme mit dem Verstehen hat – und mit weniger Terminen die optimale Einstellung gefunden werden kann. Andere wiederum berichten davon, dass ihre Kunden die Beratung über Distanz bei Bedarf schätzen – und interessanterweise genau diese Kunden nach einem Remote Support-Termin oft wieder nach einem Vor-Ort-Termin fragen. Der Grund: der engere und häufigere Kontakt. Die Möglichkeit, je nach Dienstleistung, Vorlieben und aktuellen Lebensumständen zwischen Vor-Ort und Remote flexibel wechseln zu können, scheint bei vielen Kunden sehr gut anzukommen. Und bestätigt uns in dem, was wir schaffen wollten, als wir mit der Entwicklung von Remote Support begonnen haben: eine sinnvolle Ergänzung der bewährten Betreuung und Dienstleistungen vor Ort im Ladengeschäft.

Phonak hat im Mai 2018 eine 12-monatige Webinar-Serie zu eAudiology gestartet, um Hörakustiker bei der digitalen Transformation zu unterstützen. Bereits stattgefunden haben die Sessions mit:

•   Dr. Danielle Glista, Western University’s National Centre for Audiology in London, Kanada: Einführung zu eAudiology,
•   Dr. Gurjit Singh, Senior Research Audiologist bei Phonak sowie Privatdozent an den Universitäten Ryerson University und University of Toronto: Überblick zur aktuellen Studienlage zu eAudiology,
•   Francois Julita, Director Digital Experience bei Phonak: Digitale Transformation in der Audiologie,
•   Dr. Melanie Ferguson, Professorin für Hörwissenschaften am NIHR Nottingham Biomedical Research Centre, UK: Digitales Coaching
•   Dr. Joseph Montano, Professor für Audiologie am Weill Cornell Medical College in New York: Vorstellung Positionspapier eAudiology
•   Barbra Timmer, Senior Research Specialist an der Universität von Queensland, Australien: Digitale Echtzeit-Erfassung von Hörerlebnissen
•   William Campbell, Hörakustiker aus Ontario, Kanada: Erfahrungen mit eAudiology aus der Praxissicht
•   Gina Angley, Associate Director am Vanderbilt University Medical Center, Nashville, USA: Feineinstellung per Remote Support
•   Dr. Jean Anne Schnittker, Research Audiologist bei Phonak, zur Entwicklung von Phonak Remote Support
•   Dr. Karen Munoz, University of Utah, USA, zum Einfluss von eAudiology auf die Ausbildung von Hörakustikern

Das Webinar von Dr. Schnittker hat zudem die Grundlage für diesen Artikel geliefert. Wer die bisherigen Seminare verpasst hat und sich dennoch intensiver mit dem Thema beschäftigen möchte, kann sich die Aufzeichnung über die Phonak Learning-Plattform ansehen: http://learning.phonakpro.com/

Halten Sie außerdem Ausschau nach Informationen zu den nächsten Seminaren unter dem Hashtag #eaudiologyphonak auf LinkedIn, Twitter und Facebook.

Vorteile von Remote Support in der pädiatrischen Versorgung
•   Flexible und weniger aufwendige Termine für Eltern
•   Unkomplizierte Einbindung weiterer wichtiger Bezugspersonen wie die Großeltern
•   Bessere Versorgungsergebnisse durch enge Begleitung der Eltern in der Startphase mit Hörgeräten sowie bei Problemen im Handling der Hörgeräte im Alltag
•   Steigerung der durchschnittlichen Tragedauer um 3,5 (!) Stunden pro Tag durch Data Logging und darauf basierende Beratung über Distanz

Marco Faltus ist seit Mai 2013 Leiter der Audiologie und technischer Support bei Phonak in Deutschland. In seiner Position verantwortet er den Bereich Schulung und Training, die Vertriebsaudiologie, den audiologischen Support und den ITE-Support.Der ausgebildete Hörgeräteakustik-Meister bekleidet seit Juni 2012 die Fachleitung Audiologie und Training bei Phonak. In dieser Position ist er für die audiologische Kommunikation, die Planung und Realisierung von Produktschulungen sowie die Organisation und Strukturierung von Vorträgen verantwortlich.

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