Wie Phönix aus der Asche: Deutschland und das Wirtschaftswunder

Rainer Hüls hat sich einen lang gehegten Wunsch erfüllt und seine Erinnerungen an die Zeit der 50ger und 60ger Jahre aufgeschrieben. Dennis Kraus wollte mehr darüber wissen. 

Veröffentlicht am 21 März 2018

Wie Phönix aus der Asche: Deutschland und das Wirtschaftswunder

Herr Hüls, Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch Ihre Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit, genauer gesagt in den Jahren von 1947 bis 1965. Was hat Sie auf die Idee gebracht, ein autobiographisches Buch zu schreiben?
Ich hatte schon seit langem den Wunsch, meine Erinnerungen aufzuschreiben, weil ich ein gutes Gedächtnis habe und mich immer noch genau an viele Erlebnisse aus jener Zeit erinnern kann. Ich fände es sehr schade, wenn das verloren ginge.

Wenn man die zahlreichen historischen Dokumentationen im Fernsehen verfolgt, hat man den Eindruck, dass das vergangene Jahrhundert außerordentlich ereignisreich war, im Guten wie im Schlechten.
Das war es mit Sicherheit. Ich behaupte, dass kein anderes so viele wissenschaftliche Fortschritte und tiefgreifende technologische Veränderungen erlebt hat. Die meisten umwälzenden Erfindungen und Entdeckungen fanden im 20. Jahrhundert statt und haben unser Leben beeinflusst: Elektrifizierung, Automobilität, Telefonie, Rundfunk und Fernsehen, Kernspaltung, Luft- und Raumfahrt, Mikroelektronik, Digitalisierung und Internet. Auf der anderen Seite hatte es zwei Weltkriege und viele regionale Kriege gegeben.

Einiges davon bildet die historische Kulisse Ihrer Erinnerungen. Welche Ereignisse haben Sie selbst erlebt beziehungsweise als Jugendlicher mit großem Interesse in den Medien verfolgt?
In der Grundschule mussten wir in Hamburg mit Fähnchen an der Straße stehen und winken, als der Kaiser von Äthiopien, das königliche Traumpaar aus Thailand und der Schah von Persien an uns vorbeifuhren. Das waren für uns Kinder natürlich aufregende Erlebnisse. Andere, die wir nicht persönlich erlebt hatten, die aber in der Schule besprochen wurden, waren zum Beispiel der Mauerbau 1961 in Berlin, Kennedys Berlin-Besuch 1963 und der Schock seiner Ermordung nur wenige Monate später.

Ihre Generation war die erste, die sich ihre eigene Musik geschaffen hatte.
Ich war in den 50er Jahren begeistert von Skiffle und New-Orleans-Jazz, danach vom Rock’n’Roll. In den 60er Jahren waren es die Beat-Musik und der Rhythm & Blues.

Das war angloamerikanische Musik. Spielte der deutsche Schlager keine Rolle für Ihre Generation?
Doch, aber vor allem die amerikanische Kultur zog uns magisch an, die Popmusik, die Filme und die Kleidung. Der deutsche Schlager, den meine Eltern hörten, war uns zu langweilig. Es fehlte ein Rhythmus, der in die Beine ging. Bill Haley und Elvis Presley waren unsere Idole, nicht Willy Hagara und Gerhard Wendland.

War früher wirklich alles besser, wie die Nachkriegsgeneration immer behauptet?
Das behauptet jede Generation. Das liegt vermutlich daran, dass wir die guten Erinnerungen nicht vergessen, während wir die schlechten aus unserem Gedächtnis verbannen. Wahr ist aber, dass wir damals nicht ständig erreichbar sein mussten, auch als Kinder nicht. Ich habe im Sommer den ganzen Tag mit anderen Kindern irgendwo in der Nachbarschaft gespielt und meine Mutter wusste nicht, wo ich bin. Eine Horrorvorstellung für heutige Mütter!

Hatten Sie in Ihrer Kindheit und Jugend Gewalt in der Schule kennengelernt?
In den dreizehn Jahren, die ich zur Schule ging, war das nur ganz zu Anfang ein paar Mal  vorgekommen. Das war 1955 in der überfüllten Grundschule in Wandsbek. Da flogen zwischen einigen Jungen die Fäuste und die anderen standen darum herum und feuerten sie an. Das ging oft blutig aus und die Lehrer hatten nicht immer eingegriffen.

„Frühling aus der Asche“ – der Titel Ihres Buches klingt gut. Wie sind Sie darauf gekommen?
Der Titel spielt auf den antiken Mythos vom „Phönix aus der Asche“ an. Phönix ist ein Vogel, der aus der Asche seines Feuertodes zu neuem Leben erweckt wird. Ich finde, das Bild ist eine Metapher für den Zusammenbruch Deutschlands 1945 und den Wiederaufbau aus Asche und Trümmern.

Die Zeit des Wiederaufbaus war eine Zeit, die durch große  Entbehrungen geprägt war. Wie haben Sie das als Kind erlebt?
Als Kleinkind kannte ich nichts anderes und fand die frühen fünfziger Jahre schön. Ich traue mich kaum das zu sagen, weil die Kriegsgeneration protestieren würde, für sie war es ja „die schlechte Zeit“. Direkt nach dem Krieg lebten wir in einer Holzbaracke ohne Wasser, Strom und ausreichende Heizung. Zu essen hatten wir höchstens mal Steckrüben, geklaute Kartoffeln und junge Brennnesseln.

Rainer Hüls arbeitet seit 1978 in der Hörbranche

Sie lebten in einer Notunterkunft?

Ja, meine Eltern waren während der „Operation Gomorrha“ im Juli 1943 ausgebombt worden und hatten alles verloren. Sie wickelten sich nasse Decken um den Leib und flüchteten durch die Flammenhölle bis an den Stadtrand. Dort wurden sie zwangsweise in eine unbeheizte Holzbaracke einquartiert. Es wurde dramatisch, als im Winter 1946/47 das Thermometer bis auf minus 26 Grad sank. Das war einer der kältesten Winter, den es im 20. Jahrhundert in Deutschland gegeben hatte. Mein Vater sägte nachts im Wald die Äste von den Bäumen, um an Brennholz zu kommen. Das war verboten und wurde streng bestraft, wenn man von der englischen Militärpolizei erwischt wurde.

Aber mit der Währungsreform 1948 kam der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands. Wie war das in Ihrer Familie?
Das Wirtschaftswunder und der materielle Aufstieg meiner Eltern vollzog sich mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. In einem Zeitraum von nur zehn Jahren zogen wir von der Holzbaracke in ein solides Mehrfamilienhaus und von dort in ein neues Reihenhaus. Und dann die Autos meines Vaters! Angefangen hatte es 1951 mit einem Volkswagen und es endete 1970 mit einem Mercedes der S-Klasse. Bewundernswert finde ich, dass er alles selbst erarbeitet hatte. Es gab kein Vermögen, das er über den Krieg hätte retten können. Den Startvorteil derjenigen, die nicht ausgebombt wurden, konnte er erstaunlich schnell aufholen.

Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?
Etwa fünf Jahre, mit längeren Pausen. Die Erlebnisse kamen ja erst nach und nach wieder in mein Bewusstsein. Es ist erstaunlich, wie viel man noch erinnert, wenn man erst einmal angefangen hat, sich damit zu beschäftigen. Dazu kamen viele Gespräche mit Verwandten. Jeder hat seine eigenen Erinnerungen und da kamen viele interessante Details zum Vorschein.

Gab es noch Dokumente, die Ihnen geholfen haben?
In meiner Familie wurde leider viel weggeworfen. Einige Dokumente sind in den Bombennächten verbrannt, andere sind bei den Wohnungswechseln entsorgt worden. Man steht ja immer wieder vor der Entscheidung: Brauchst du das noch? Ich habe aber glücklicherweise Verwandte, die nie umgezogen sind und alles aufbewahrt haben, Urkunden, Briefe und Fotos. Da habe ich einige interessante Dinge über meine Familie entdeckt, die mir bisher unbekannt waren.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ja, ich habe einen Ahnenpass einsehen können, der unter den Nazis Pflicht war, um die „rassische Reinheit“ der Familie nachzuweisen. Darin habe ich gefunden, dass wir unsere Linie mütterlicherseits bis in das Jahr 1737 zurückverfolgen können.

Haben Sie auch etwas über ihre Familie in der Zeit des Nationalsozialismus herausgefunden?
Ja. Es gab auch dunkle Seiten in der Familiengeschichte. Drei männliche Verwandte waren Mitglieder der Waffen-SS, davon hatte sich einer schon früh freiwillig gemeldet, die anderen beiden sind erst 1943 für den Fronteinsatz zwangsrekrutiert worden. Bis auf meinen Großvater mütterlicherseits hatten alle Männer das Parteibuch der NSDAP. Ohne das konnte man ja keine Karriere in der Wehrmacht oder Verwaltung machen.

Geht es in Ihrem Buch nur um Vergangenheitsbewältigung?
Nein, keineswegs. Viele Anekdoten haben eine heitere Note, andere eine nostalgische. Wie gesagt, ich bin ein Nachgeborener des Krieges und kenne seine Schrecken nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Die Jahre danach habe ich als schön erlebt. Es war der Frühling meines Lebens, und darum geht es in dem Buch hauptsächlich.